Moving Waters

Anna Bogouchevskaia

Eröffnung: März 2021

Im magischen Mikrokosmos

„Frühmorgens auf einer Wiese, irgendwo auf dieser Erde. Doch in dieser Wiese verbirgt sich eine andere Welt, groß wie ein Planet. Wilde Gräser werden zu undurchdringlichem Dschungel. Steine wachsen zu Bergen an. Und selbst das kleinste Wasserloch verwandelt sich in einen Ozean.“Mit diesen Worten beginnt der französische Dokumentarfilm „Microcosmos – Lepeuple de l‘herbe“ von 1996. Er führt den Zuschauer in einen Raum und eine Zeit, die sich unterhalb der menschlichen Wahrnehmung befinden und sich ihren Kategorien entziehen. Als Regen aufzieht wird ein neuer Akt eröffnet im Drama des im Universum des kleinen geschilderten Tages. Wir sehen einzelne Regentropfen in die Wasseroberfläche eines Sees einschlagen. Es ist der Gestaltzyklus einer einzigartigen Form, einer radikal verlangsamten Verwandlung: vom vertiefenden Einschlag zum rückstoßartigen Aufsteigen einer Wassersäule, in unendlicher Variation und Vielfalt.

Die Bilder dieses Films waren für Anna Bogouchevskaia der erste Anstoß, sich mit dem Mikrokosmos der „Tropfen“ zu befassen und sich ihn bildhauerisch zu eigen zu machen. Sie wollte dem, was „nur eine Sekunde, eine Drittelsekunde existiert, eine Form geben“. Ihre neuen, hochreliefartigen Skulpturen nehmen den Betrachter mit in die fremde, mikroskopisch vergrößerte Formenwelt der Wasserflächen. Aus dieser gleichmäßig strukturierten Fläche ragen vielfältige Figuren, jeweils eingefasst durch konzentrische Wellenmuster, die verschiedene Stadien jenes Bewegungsablaufs einfangen, der beginnt, wenn ein Tropfen auf die Wasseroberfläche trifft: Von einer kranzartigen Blüte mit weich gezacktem Rand über kleine und größere Kegel bis zu höher aufragenden Säulen mit kugelförmigen Tropfen als Köpfen. Aber noch ein anderes Motiv, das Bogouchevskaia immer wieder anzieht, findet sich in Moving Waters: Eine Gruppe Fische, die in verschiedenen Höhen aufeinander zuschwimmen und die den überraschenden Titel „Auf der Straße“ trägt. Das Tiermotiv bildet also zugleich eine Alltagsbeobachtung und lässt auf humorvolle Weise die Gestaltenvielfalt anklingen, das Groteske und Allzumenschliche, das Bogouchevskaia in der Beobachtung von Passanten entdeckt. Für diese Arbeit hat die Künstlerin lange Stunden vor den Scheiben des Aquariums im Berliner Zoo verbracht und sich jenen Fischen zugewandt, deren besondere Physiognomien sie an verschiedene menschliche Charaktere erinnert haben. Bogouchevskaias Vater, der Bildhauer Daniel Mitlianski, hat in seinem Text „Die Skulpturen meiner Tochter Anna“ (1999) diese „ganz eigene Sicht auf die Dinge dieser Welt“ treffend als „liebende Ironie“ bezeichnet, die der Betrachter hier wiederfinden kann.

In der Stauchung der Zeit und der Dehnung des Raums wendet sich Bogouchevskaia dem Wasser als der flüchtigsten der Naturformen zu, dem Inbegriff des Formlosen und Unfassbaren. Zweifellos eine bildhauerische Herausforderung und in seiner Kompliziertheit tatsächlich eine „tödliche Arbeit“, wie Bogouchevskaia verrät. Einerseits, weil das Wasser und seine Bewegung so unwahrscheinliche, unwirkliche Gebilde mit ganz eigenen Proportionen und einer unmöglichen Statik erzeugt, die auf die Dynamik des Stoffs verweist, andererseits weil im Vergleich zu früheren Werken eine stärkere Abstraktion stattfindet. Aber lassen sich die „Tropfen“ überhaupt in die Dichotomie Konkretion – Abstraktion einordnen? Denn was auf den ersten Blick als abstrakte Form erscheint, entspringt ja gerade einem genaueren Hinsehen, einer Vertiefung in eine konkrete, naturalistische Formensprache, deren fremde Anmutung uns die Begrenztheit unserer Wahrnehmung zu Bewusstsein bringt.

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